Florian Sitzmann an der AES 20.03.2024
Stellen Sie sich bitte folgende Situation vor: Sie stehen mit ihrem Auto an der roten Ampel und warten bis grün wird. Von hinten kommt ein sportliches Cabrio, offenes Verdeck, cooler Typ mit Sonnenbrille, laute Mucke und stellt sich neben Sie auf die linke Spur. Sie schauen etwas streng rüber, der Typ grinst Sie frech an. Soweit? … Dann nehme ich Sie in eine zweite Situation mit. Sie gehen zu REWE einkaufen. Auf dem „Behindertenparkplatz“ steht ein VW-Bus. Da sitzt ein Kerl mittleren Alters drin und Sie merken, wie Ihnen die Wut in den Bauch steigt: Was macht der auf dem Behindertenparkplatz! Sie gehen hin und weisen diesen Kerl drauf hin, dass er da gar nichts zu suchen hat. Richtig so! Diese Parkplätze sind ja extra für Menschen, die nicht gut laufen können.
Jetzt denken Sie mal ganz kurz darüber nach, wie für Sie ein sogenannter „Behinderter“ aussieht. Haben Sie Ihr Bild im Kopf? Gehören diese beiden Typen, die ich Ihnen gerade beschrieben habe, auch dazu?
Nur: Diese beiden Typen sind nicht irgendwelche zwei Typen, die uns da draußen nerven. Diese beiden Typen ist ein Typ, noch dazu einer, der von der Hüfte abwärts keine Beine mehr hat – und das seit 32 Jahren. Der eine Typ heißt Florian Sitzmann, fuhr liebend gern mit schnittigen Sportwagen, lauter Mucke und frech zurückgrinsend draußen rum (das das ganz ohne Beine) und der einfach mit seinem VW-Bus auf dem Behindertenparkplatz steht. Klar, diese Parkplätze sind für Menschen, die nicht gut laufen können. Das schließt halt auch Menschen mit ein, die gar nicht laufen können.
Das mit dem Laufen auf Beinen geht seit dem Motorradunfall 1992 nicht mehr, aber Leistungssport geht sehr wohl: Gewinner mehrerer Deutscher Meisterschaften, Vizeweltmeister, Teilnahme an den Olympischen Spielen, Langstreckenrennen „Styrkeproven“ 540 km das quer durch Norwegen – alles mit dem Handbike. Und was auch geht: „Miles of hope“ die Hoffnung-für-Kinder-Tour, fast 1000 km durch Deutschland von Hamburg bis zur Zugspitze. Und was auch geht: Bücher schreiben, Film drehen, Lesungen, Schülerinnen und Schüler sowie Erwachsene einen ganz anderen Blick geben, Mut machen, Kraft geben. Das geht alles. Und es geht immer noch mehr: glücklich sein. Wenn Florian Sitzmann über seine Familie und seine Freunde erzählt, dann spürt jeder, wie glücklich dieser Mann ist.
Kinder fragen, Erwachsene lauschen andächtig: so ungefähr können Sie sich den Mittwoch vorstellen, als Florian Sitzmann am 20.3.2024 der AES war. Die Kinder des 6. Jahrgangs waren am Vormittag mit ihren Fragen nicht zu bremsen, bestürmten Florian Sitzmann, suchten den Kontakt und die Nähe. Ein Gewusel in der Aula! Am Abend saßen die Erwachsenen vor Florian Sitzmann und hörten den Geschichten aus seinen Büchern oder den Geschichten, die nicht in seinen Büchern stehen, zu.
Die Kinder fragten ganz offen, was vielleicht die Erwachsenen auch gern gefragt hätten, aber dafür zu anständig sind: wie geht das Aufs-Klo-gehen und mit dem Kindermachen? Aber es ging auch darum, wie Florian Sitzmann mit dem Fahrer des Unfallsmotorrades umgeht. Egal wie direkt oder indirekt gefragt wurde, es ging um die ganz großen Fragen des Lebens und (fast) Sterbens.
Beeinträchtigt sein heißt, dass Menschen, die nicht gleichzeitig alle Gliedmaßen an sich haben und bei denen nicht alle Sinnesorgane funktionieren, dass diese Menschen ständig vor Hindernissen stehen: vor Bordsteinen, Treppen oder Autos, an denen kein Rollstuhl vorbei kommt, fehlenden akustischen Signalen usw. Aber da gibt es einen Florian Sitzmann, der zeigt, dass man ihm und anderen noch so viele und hohe Hindernissen in den Weg legen kann, es immer andere Wege gibt, andere Perspektiven, andere Möglichkeiten. Letztendlich sind Menschen, an denen Köperteile oder Sinnesorgane fehlen nur deswegen beeinträchtigt, weil diejenigen, an denen alles dran ist, diese Menschen beeinträchtigen - und nicht, weil sie es per se sind. Wenn wir unser Auto in den Weg stellen, kann eben kein Rollstuhl durchkommen. So einfach ist das. Und umgekehrt: Der Typ in dem VW-Bus auf dem REWE-Parkplatz steht dort, weil es diesen Parkplatz für ihn gibt, ob er in unsere Vorstellung passt oder nicht.
Nachdem ich Florian Sitzmann kennengelernt habe, beschäftigt mich eine Frage, die ich vorher nicht hatte: Kann man beides haben (also alle Köperteile und alle funktionierenden Sinnesorgane UND kein Klischeebild, kein Vorurteil) oder muss man erst irgendwas an sich verlieren, um andere wahrnehmen zu können?
Das ist sinngemäß die Frage, die ich eingangs formuliert habe:
„Jetzt denken Sie mal ganz kurz darüber nach, wie für Sie ein sogenannter „Behinderter“ aussieht. Ja, haben Sie Ihr Bild im Kopf? Gehören diese beiden Typen, die ich Ihnen gerade beschrieben habe, auch dazu?“
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Sophia Brand